Mehr als eine Schule
Sisyphosarbeit am belebten Objekt
Text: Isabella Marboe
Mit langem Atem und viel Innovationssinn bauten die Architekten Franz Sam und Irene Ott-Reinisch den komplexen Schulbestand in Waidhofen an der Ybbs zum multifunktionalen Schulzentrum aus und um. Ein Altbauteil wurde unterfangen, im felsigen Grund daneben fand der große, neue Turnsaal Platz. Ihm dient der reduzierte, weiße Neubau des Polytechnikums als stützenfreies Überlager. Die alte Schule wurde bei laufendem Betrieb umsichtig reorganisiert, als barrierefreier Zugang und lichtspendender Verteiler für beide fungiert das neue, gläserne Foyer. Die Musikschüler werden bald im raffinierten, holzverkleideten Baukörper über der gläsernen Mensa bei optimaler Akustik glänzen können.
Ein markanter, mittelalterlicher Stadtturm bezeichnet den Beginn von Waidhofen an der Ybbs, dicht schmiegen sich die meterdicken Mauern der alten Häuser zu engen, verwinkelten Gassen. Platz ist seit jeher Mangelware in dieser Stadt am Fluss, dafür ist die Qualität der gewachsenen Straßen und öffentlichen Räume mit ihren prägenden Kirchtürmen umso höher und das Bewusstsein um sie stark ausgeprägt. Waidhofen hat ein reiches baugeschichtliches Erbe, eine ambitionierte architektonische Gegenwart und eine über Generationen gewachsene musikalische Tradition. Wie im Brennglas verdichtet trafen all diese Faktoren auf dem beengten Bauplatz der Volksschule maßgeblich aufeinander, die um ein Polytechnikum mit neun Klassen und einen großen, gemeinsamen Turnsaal erweitert werden sollte. Im Jahr 2000 gab es dazu einen geladenen Wettbewerb, den die Architekten Franz Sam und Irene Ott-Reinisch gewannen.
Baubeginn war 2005, in der Zwischenzeit wuchsen die Begehrlichkeiten der Nutzer auf insgesamt sieben Schultypen mit diversen Nebenräumen an. Mit viel Taktgefühlt stülpt sich nun der holzverkleidete, raffiniert zugeschnittene Baukörper Musikschulzubau über die Tragstruktur des alten Saales. Seine unorthodox vor-und rücksprigenden Kanten verdanken sich den Belichtungswinkeln der gegenüberliegenden Häuser, feinsensorisch lotet er der Klangbaukörper Grenzen der Baufluchtlinie aus. Wie ein feiner, avantgardistischer Instrumentenkasten ragt er nun über die neue, gläserne Mensa.
Maximal bespielt
Seit jeher war der winkelförmige Bestandsbau aus dem Jahre 1965 mehr als nur eine Volksschule: die südwestliche Grundgrenze verläuft an der Bundesstraße 31, hier lag der Zugang zum sonderpädagogischen Zentrum im nordwestlichen Klassentrakt, daneben war noch ein Stück Wiese frei. Der prominente Eingang der Volksschule aber liegt um ein Niveau tiefer an der Plenkerstrasse. Ihr Speise/Tanzsaal und die große Pausenhalle mit Garderobe, Küche und Buffet im Erdgeschoss waren bereits auf die Mitnutzung durch den angrenzenden Stadtsaal ausgelegt, der in den 80er Jahren dazu kam. Auf seiner Hinterbühne wurde geturnt, nachmittags mutierte jeder freie Raum zum klingenden Musikzimmer. „In dieser Stadt gibt es keine Peripherie, die bebaut werden kann. Hier ist alles maximal genutzt und verdichtet,“ stellt Franz Sam pragmatisch fest. „Die Schlüsselfrage war, die diversen Nutzungen auf dem beengten Grundstück unterzubringen,“ ergänzt Irene Ott-Reinisch. „Wir haben jedes Detail mit Akribie durchgeplant. Es war eine herzchirurgische Daueroperation bei laufendem Schulbetrieb.“
Konsequent folgten sie dem ortsimmanenten Gebot der maximalen Nutzung aller bestehenden Raumressourcen: die Nordwestflanke des Bestands wurde umsichtig unterfangen, um daneben ins einzig noch bebaubare Eck des Grundstücks den Aushub für den 5,50 m hohen, von einem Oberlichtband erhellten Turnsaal ins felsige Konglomerat fräsen zu können. Seine Dichtbetonwanne bildet das Fundament des neuen Polytechnikums. Unprätentiös fügt sich der reduzierte, weiße Quader mit den disziplinierten Fensterbändern zum grau verputzten Bestand, dessen Struktur sich in den drei straßenseitigen Klassen pro Zubauebene spiegelt. Die oberste wird vom sonderpädagogischen Zentrum genutzt, auch die neue Schule ist mehr als nur eine Schule und folgt einer besonderen Ökonomie. Ihre vier tragenden Wandscheiben bilden mit den aussteifenden Querwänden das statische Tragwerk, das gleichsam als überproportioniertes, dreigeschossiges Überlager den 15 x 27m großen Turnsaal stützenfrei überspannt, dessen Decke zugleich der Boden der Schule ist.
Lernen am Objekt
Form wird hier zum Inhalt. „Das ist eine absolute Sensation: wir haben ein Haus gebaut, das selbst ein Tragwerk ist,“ sagt Franz Sam. „Das statische System ist sehr gut ausgeklügelt.“ Weil die Stahlbetonwände nicht nur die Lasten der Schule seitlich ins Fundament ableiten, sondern auch der Erschließung Raum geben mussten, wurden große Hohlräume in die Betonscheiben eingeschnitten, die sich auf jeder Ebene unterscheiden. Verschieden lange Treppenläufe mit gläsernen Brüstungen stoßen nun durch rudimentäre Sichtbetonwände und verleihen dem offenen, gussasphaltierten Stiegenhaus seine spezifische räumliche Dynamik. Als begeh - und erlebbares optimiertes statisches System bietet es den Schülern des Polytechnikums nun quasi täglich konstruktiven Anschauungsunterricht. Tatsächlich gepaukt wird in hellen, elektronisch voll ausgestatteten Klassen auf geräuchertem Eichenparkett unter abgehängten Akustikdecken. Innen dominiert Sichtbeton, am Gang strahlen die von Oberlichtbändern perforierten Wände in hellem Gelb. „Es war wichtig, sich in dem umlaufenden Schulkomplex orientieren zu können,“ sagt Franz Sam.
Eine gläserne Foyerspange, die als lichtspendender Zentralverteiler zwischen den unterschiedlichen Niveaus wirkt, bildet den neuen, barrierefreien Zugang an der Bundesstraße, im dritten Stock sorgt eine Luftbrücke für eine leichtläufige Verbindung zwischen Alt- und Neubau. Lachsrosa und Hellblau sind die bauzeitaffinen Leitfarben der Bestandstrakte, deren Terrazzoböden erhalten blieben. In ihre Wände wurden erhellende Glasbänder und Raummöbel mit lauschigen Sitznischen eingebrochen, die nun Licht und Entspannung in die Klassen bringen. Frech stülpen sie sich auf die Gänge aus, wo die Schüler an Schiefertafeln und Pinwänden ihre Botschaften hinterlassen können. Gelochte Gipskarton-, Holz- oder Herakustikplatten finden sich flächendeckend in der ganzen Schule, damit die nachmittägliche Musikbegeisterung dem konzentrierten Lernen nicht in die Quere kommt. Der geforderte, neue Tanzsaal kam im nordwestlichen Bestandstrakt zwischen dem Turnsaal und der hellen, großen Schulküche mit ihren unterschiedlich hohen Arbeitsflächen und pastellfarben gestreiften Kästen unter. „Wir haben allen Räumen unsere ganze Hingabe gewidmet,“ sagt Franz Sam.
Klingende Zukunft
Das Juwel, der Musikschulsaal mit seinen 440 Plätzen, den schallabsorbierenden Wandoberflächen und abgehängten Deckenpanelen, hinter denen sich die Beleuchtungsmaschinerie verbirgt, wird gerade feingeschliffen. Seine Akustik und die flexibel teilbare Bühne sind für unterschiedlichste Szenarios ausgelegt, die vom Guckkasten bis zur Raumbühne das ganze theatralische Spektrum abdecken „Das ist unsere Diva,“ sagt Irene Ott-Reinisch. An einer blattgrünen Wand wird man im glasgeschlitzten Osteck des vorspringenden Zubaus mit Weitblick über Waidhofen auf die Galerie hochgleiten. Darüber ragen im holzverkleideten Klangbaukörper die Unterrichtsräume der Musikschule über die gläserne Mensa, die tagsüber zum Schaufenster und nachts zur Bar wird. Ganz oben unter der hohen, steilen, dynamisch glasperforierten Dachschräge trohnt der Orchesterproberaum, mild legt sich eine Terrasse über den Bestand. Franz Sam: „Dieses Gebäude ist wie ein Instrument, das verschiedene Töne produziert.“ Und wenn es Nacht wird über Waidhofen, wird es leuchtend klingen und unter tosendem Applaus die Stars der Zukunft in seinem Rampenlicht glänzen lassen.
Technische Daten:
Bruttogeschossfläche: 7.245 m˛
Nettonutzfläche: 2.200 m˛
Umbauter Raum: 2.275 m˛
Fotos: Hertha Hurnaus, Bruno Klomfar